#62 - Neurodivergenzen, ADHS & das Ungleichgewicht der Neurotransmitter

#62 - Neurodivergenzen, ADHS & das Ungleichgewicht der Neurotransmitter

Ask the Coach #62

Frage: Hallo lieber Wolfgang, hallo lieber Thomas und hallo liebes YPSI-Team,

erstmal vielen Dank für euren wöchentlichen Podcast, der mich als Trainerin regelmäßig weiterbringt und verbessert. Auch Wolfgangs Kolumnen sind ein wahrer Segen für meinen Berufsalltag!

Ich habe bereits mein erstes Seminar im YPSI gebucht und werde sicher noch viele weitere besuchen, da das Wissen hinter euren Konzepten so weitaus vielfältiger, komplexer und spezifischer ist als alles, was ich an einer Hochschule oder Uni lernen könnte.

Ich hätte eine Frage für euren Podcast bzw. einen Themenblock, der mich persönlich sehr interessiert:

Wie seht ihr das Thema Neurodivergenzen und die Behandlung von z. B. ADHS mit Stimulanzien vs. Training oder auch Supplementierung/spezifische Ernährung?

Als Betroffene einer diagnostizierten ADHS habe ich bereits den Neurotransmitter-Test von Wolfgang gemacht. Allerdings kam bei mir nicht als wichtigster Punkt das Thema Dopamin raus, was mich die Frage aufwerfen lässt, ob die Studienlage (von der wir alle wissen, dass sie mehr als dürftig ist) möglicherweise nur eine Sorte von Neurotransmittern – in diesem Fall Dopamin – berücksichtigt. Trotzdem passt meine Symptomatik zu 100% auf ADHS, insbesondere meine stark eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit.

Grundsätzlich interessiere ich mich für alternative Behandlungsmöglichkeiten, weil die Wirkung von Stimulanzien bei vielen Betroffenen, einschließlich mir, oft nur gering ausfällt. Gleichzeitig gibt es ja erste Ansätze von manchen „Ernährungsexperten“, ADHS mit extremen Methoden wie Saftkuren zu „heilen“. Mir ist bewusst, dass die meisten dieser Methoden fragwürdig sind, aber vielleicht habt ihr einen fundierten Ansatz oder eine Meinung dazu?

Ganz liebe Grüße und vielen, vielen Dank für euren Wissendurst und euer Engagement!

PS: Falls Thomas fragt – ich habe schon 5 Sterne bei Spotify gegeben. :D

Antwort: Das ist eine sehr gute Frage, die wir im Podcast definitiv kurz anschneiden werden, in der Tiefe jedoch den Rahmen sprengen würde.

Auch in einem Q&A-Format wie diesem können wir zwar etwas tiefer in das Thema eintauchen, doch es bleibt eine vereinfachte Darstellung.

Hier sind die wichtigsten Grundlagen zum Thema ADHS, das sich in seinem Fundament als ein Ungleichgewicht im Nervensystem zeigt.


ADHS: Ein Ungleichgewicht im Nervensystem

ADHS ist keine einfache „Aufmerksamkeitsstörung“, sondern ein komplexes Ungleichgewicht im Nervensystem, das sowohl neurochemische als auch strukturelle und funktionelle Aspekte umfasst.

ADHS wird primär mit einer Dysregulation von Dopamin und GABA in Verbindung gebracht. 

Während Dopamin die Motivation und den Fokus beeinflusst, sorgt GABA für eine effektive Reizfilterung und emotionale Regulation.

Es gibt jedoch auch Hinweise darauf, dass Noradrenalin, Serotonin und Glutamat je nach individueller Ausprägung eine Rolle spielen können.

Dopamin und GABA sind zwei Neurotransmitter, die eine Schlüsselrolle in der Fähigkeit spielen, sich zu konzentrieren, Impulse zu kontrollieren und Reize zu verarbeiten.

 

1. Dopamin – Motivation, Fokus und Belohnungssystem

Dopamin ist der Neurotransmitter, der für Motivation, Antrieb, Lernfähigkeit und das Belohnungssystem zuständig ist.

Menschen mit ADHS zeigen häufig eine reduzierte Dopaminverfügbarkeit im präfrontalen Cortex – der Hirnregion, die für Fokus, Planung und Selbstregulation verantwortlich ist.

Wenn Dopamin fehlt oder unzureichend wirkt, hat das folgende Effekte:

  • Ablenkbarkeit: Reize können nicht effizient priorisiert werden, weshalb irrelevante Dinge genauso viel Aufmerksamkeit bekommen wie relevante Aufgaben.
  • Geringe Motivation: Da Dopamin mit dem Belohnungssystem verbunden ist, fällt es schwer, sich für Aufgaben zu motivieren, die keine sofortige Belohnung bieten.
  • Impulsivität: Entscheidungen werden eher spontan und reaktiv getroffen, da das Gehirn keine klare Gewichtung von langfristigen vs. kurzfristigen Konsequenzen vornimmt.

Daher wirken Stimulanzien wie Methylphenidat (Ritalin) oder Amphetamine (Adderall), indem sie die Dopamin-Wiederaufnahme hemmen und so die Dopamin-Konzentration im synaptischen Spalt erhöhen.

Allerdings zeigen nicht alle Betroffenen eine signifikante Verbesserung durch Stimulanzien, da Dopamin nur ein Teil des Puzzles ist.

 

2. GABA – Die Bremse des Nervensystems

Während Dopamin für Motivation und Fokus sorgt, ist GABA (Gamma-Aminobuttersäure) der wichtigste hemmende Neurotransmitter im Gehirn.

Er wirkt wie eine Art "Bremse", die hilft, Reize zu filtern und emotionale sowie motorische Kontrolle zu ermöglichen.

Ein GABA-Defizit führt zu:

  • Reizüberflutung: Das Gehirn kann unwichtige Reize nicht effizient herausfiltern, weshalb es oft zu sensorischer Überlastung kommt.
  • Innere Unruhe und Hyperaktivität: Ohne ausreichende GABA-Hemmung bleibt das Nervensystem in einem übererregten Zustand.
  • Schwierigkeiten mit Impulskontrolle: GABA moduliert inhibitorische Schaltkreise im Gehirn, die für Selbstkontrolle und Regelbefolgung notwendig sind.

GABA und Dopamin beeinflussen sich gegenseitig – ein Mangel an GABA kann dazu führen, dass Dopamin nicht optimal reguliert wird, was die Symptome weiter verstärkt.

 

3. ADHS als autonome Dysregulation

Neben der direkten Neurotransmitter-Dysbalance gibt es auch Hinweise darauf, dass ADHS eine Fehlregulation des autonomen Nervensystems (ANS) umfasst.

Viele Betroffene haben eine verstärkte Aktivierung des sympathischen Nervensystems (Stressmodus) und eine reduzierte Aktivierung des parasympathischen Nervensystems (Ruhemodus).

Das bedeutet vor allem:

  • Chronische Unruhe und Schwierigkeiten mit Entspannung
  • Schlechter Schlaf, der die Symptome verstärkt
  • Verstärkte Stressreaktionen und emotionale Dysregulation

Da das autonome Nervensystem eng mit dem Hormon- und Neurotransmittersystem verbunden ist, kann eine gezielte Optimierung von Lebensstils und Ernährung hier eine Schlüsselrolle spielen.


Alternative Ansätze für ADHS

Eine nachhaltige Strategie zur Wiederherstellung des Gleichgewichts im Nervensystem umfasst mehrere Komponenten:

  • Ernährung: Eine Ernährung mit stabiler Blutzuckerregulation und optimaler Versorgung von Makro- und Mikronährstoffen ist essenziell, da Schwankungen im Blutzucker sowie ein Mangel von Vorläufern und Co-Faktoren den Dopamin- und GABA-Haushalt negativ beeinflussen können.
  • Mikronährstoffe: Eine Reihe von Mikronährstoffen sind entscheidend für die Synthese von GABA und Dopamin. Ebenfalls gibt es bestimmte Aminosäuren, die als Vorläufer von Dopamin eine Rolle spielen, während andere Aminosäuren GABA unterstützen können.
  • Lifestyle & Training: Krafttraining hat nachweislich positive Effekte auf die Dopaminregulation, insbesondere durch die Aktivierung des Belohnungssystems. Progressives Intervalltraining und andere Bewegungsformen können ebenfalls helfen, Neurotransmitter im Gleichgewicht zu halten.
  • Schlaf: Chronischer Schlafmangel, in Dauer und Qualität, reduzieren unter anderem Dopaminrezeptoren und verstärken Symptome wie Konzentrationsprobleme und emotionale Dysregulation. Ein konstanter Schlafrhythmus mit ausreichend Tiefschlaf ist entscheidend.


Warum individuelle Strategien entscheidend sind

Welche Maßnahmen konkret sinnvoll sind, hängt stark von der individuellen Neurotransmitterlage ab.

Du hast schon den Neurotransmitter Test erwähnt, den wir grundsätzlich mit allen Kunden und Athleten als wichtigen, wiederkehrenden Datensatz zum Assessment von kognitiver Leistungsfähigkeit und Balance verwenden.

Die effektivste Strategie besteht darin, regelmäßige Check-ups durchzuführen, um den Fortschritt objektiv zu erfassen und die Strategie sowie der darauf basierenden Maßnahmen anzupassen.

Zu Beginn sollte das monatlich geschehen, um zu dokumentieren, ob eine gewählte Strategie funktioniert oder ob weitere Anpassungen notwendig sind.

Es gibt keinen One-Size-Fits-All-Ansatz für ADHS.

Stimulanzien können für manche sehr effektiv sein, während andere kaum eine Wirkung spüren.

Ebenso können grundsätzliche Ernährungs- und Supplementstrategien für einige große Vorteile bringen, während andere keine spürbare Veränderung wahrnehmen.

Deshalb ist eine kontinuierliche Individualisierung auf Basis von regelmäßig erfassten Daten der entscheidende Ansatz, um eine maßgeschneiderte Strategie zu entwickeln und fortlaufend zu optimieren.

Das gilt weit über das Thema ADHS hinaus, denn dieser datengetriebene Ansatz ist grundlegend für unsere Arbeit.

Auch wenn ADHS ein hochinteressantes Thema für das Studium des Nervensystems ist, spielt es in unserer Praxis mit Kunden und Athleten keine direkte Rolle.

Wir sind keine Therapeuten, die spezifische medizinische Probleme behandeln, sondern Trainer mit dem klaren Fokus auf die Optimierung des Hormonhaushalts und der Neurotransmitter-Balance – mit dem Ziel, Muskelmasse, Muskelkraft, Körperfettreduktion, Leistungsfähigkeit und allgemeines Wohlbefinden nachhaltig zu steigern.


Fazit

ADHS ist in seinem Kern ein Ungleichgewicht im Nervensystem, das vorrangig durch ein Defizit von GABA und Dopamin gekennzeichnet ist.

Die hier genannten Faktoren – Ernährung, Mikronährstoffe, Lifestyle und Schlaf – sind nur ein grundlegender Überblick.

Die tatsächlichen Einflussfaktoren sind noch zahlreicher und müssen individuell erfasst und angepasst werden.

Der wichtigste Schritt ist daher nicht die bloße Auswahl von Maßnahmen, sondern die kontinuierliche Überprüfung, ob sie auch tatsächlich funktionieren. Das ist der effektivste Weg, um individuell die richtige Lösung zu finden.

 

„Ask the Coach“ ist die Kolumne in der Wolfgang Unsöld Eure Fragen zu Training & Ernährung beantwortet. Das gleichnamige Buch ist im Riva Verlag erschienen und direkt hier erhältlich

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