Ask the Coach #60 - Das Missverständnis der Biceps-Straight-Arm-Strength

Ask the Coach #60 - Das Missverständnis der Biceps-Straight-Arm-Strength

Frage: Wolfgang, vor einiger Zeit hatte ich dich bei einem Seminar zum Thema Aktivierung des Bizeps bei Übungen wie dem Planche und zur "straight arm biceps strength" angesprochen. Du meintest, dass dies ein Missverständnis der funktionellen Anatomie ist und die Rekrutierung des Bizeps in dieser Position grundsätzlich irrelevant sei.

Ich habe inzwischen ein Video eines Calisthenics-Influencers gefunden (Anmerkung: im Video wird erwähnt, dass der Brachialis im Planche entscheidend ist, um die Überstreckung des Ellbogens zu vermeiden). Zusätzlich fand ich ein weiteres Video eines anderen Calisthenics-Influencers (Anmerkung: in diesem Video wird erklärt, dass der Bizeps ebenfalls den Ellbogen stabilisiert).

Deine Gegenfrage an mich war, ob es möglich ist, den Bizeps zu kontrahieren, während der Trizeps kontrahiert ist. Meine Anmerkung dazu war, dass dies selbstverständlich möglich ist und als Kokontraktion bezeichnet wird, was für dich jedoch keine relevante Begründung war.

Da das Thema "biceps straight arm strength" und die Beteiligung des Bizeps bzw. der Ellbogenbeuger gerade im Bereich Calisthenics ein großes Thema ist, könntest du vielleicht weiter auf dieses Thema eingehen?

Antwort: Ja, das ist eine gute Frage, die auch sehr gut auf das Thema funktionelle Anatomie eingeht.

Zuerst schauen wir uns mal die Übung und den Muskel im Detail an.

Die Planche ist eine herausfordernde Übung, die durch die waagerechte Haltung des Körpers immense Stabilität und isometrische Kraft erfordert.

Dabei gibt es eben häufig das Missverständnis darüber, welchen Beitrag der Bizeps aktiv zur Stabilisierung und Kraftentwicklung beitragen.

Der verbreitetete Mythos ist die Vorstellung, dass der Bizeps im gestreckten Arm signifikante Kraft entfalten kann.

Dieses Konzept, oft als „Straight Arm Biceps Strength“ bezeichnet, ist jedoch biomechanisch grundsätzlich inkorrekt.

Ebenfalls ist es wichtig zu verstehen, wenn wir die Videos betrachten, dass insbesondere im Bereich der Influencer der eigene Trainingserfolg und die tatsächliche Trainingskompetenz oft nicht so stark korrelieren, wie häufig angenommen.

 

Anatomische Funktion des Bizeps

Der Musculus biceps brachii, allgemein bekannt als Bizeps, ist ein zweiköpfiger Muskel an der Vorderseite des Oberarms.

Drei seiner fünf Hauptaufgaben sind:

Flexion des Ellenbogens: Der Bizeps beugt den Unterarm.

Supination: Er dreht den Unterarm nach außen, sodass die Handfläche nach oben zeigt. Beide Bewegungen erfordern eine Ellenbogenbeugung, was bedeutet, dass der Bizeps in seiner Funktion primär aktiv ist, wenn der Arm gebeugt ist.

    Stabilisation des Ellenbogens: Der Bizeps fixiert den Unterarm am Oberarm und der Schulter.

     

    Die Rolle des Trizeps und die Inhibierung des Antagonisten

    Der Antagonist des Bizeps, der den Ellbogen beugt, ist der Trizeps, welcher den Ellbogen streckt.

    Grundsätzlich gilt:

    Je höher die Aktivierung des Agonisten, desto geringer die Aktivierung des Antagonisten – und umgekehrt.

    Dieses Prinzip der Inhibierung des Antagonisten ist hier entscheidend:

    Der Bizeps wird nahezu inaktiv, da der Trizeps eine starke Kontraktion zur Ellbogenstreckung aufrechterhält.

    Da die Kraftwirkung bei Körpergewichtsübungen aufgrund der Erdanziehung vertikal zum bodeverläuft, ist der Trizeps dafür verantwortlich, die Position im Planche zu stabilisieren.

    Da die Kraftwirkung die Beugung des Ellbogen forciert, ist die (maximale) Aktivierung der Strecker entscheidend um die Position des Ellbogen isometrisch zu stabilisieren.

    Das bedeutet, bei zu geringer Kraftentwicklung des Trizeps würde der Ellbogen beugen und das Halten der Position im Planche wäre damit nicht möglich.

    Beim Planche, einer fortgeschrittenen und anspruchsvollen Übung ist die Rekrutierung des Trizeps damit besonders hoch ist.

    Der Bizeps spielt in der Planche also keine aktive Rolle, da die starke Anspannung des Trizeps seine Kontraktion verhindert.

    Der Trizeps übernimmt hier die Hauptarbeit, indem er den Arm in gestreckter Position stabilisiert.

     

    Kokontraktion und ihre Irrelevanz im Planche

    Ja, dein Punkt, dass Agonist und Antagonist im Rahmen der Kokontraktion gleichzeitig aktiviert sind, ist korrekt – allerdings mit gewissen Einschränkungen.

    Tatsächlich ist die Kokontraktion im Planche vernachlässigbar:

    • Hochintensive Muskelarbeit: Die Planche fordert grundsätzlich maximale Muskelkraft vom Trizeps und anderen Stabilisatoren des Schultergürtels. Bei solch intensiver Arbeit entfaltet der Agonist (Trizeps) die volle Kraft, während der Antagonist (Bizeps) inaktiv ist.
    • Kokontraktion im Planche: Ab etwa 10 % der maximalen Muskelkontraktion verliert die Kokontraktion ihre Funktion, da die Hauptarbeit von den Agonisten ausgeführt wird, um die Körperhaltung zu stabilisieren.
    • Kokontraktion und Feinmotorik: Eine Hauptfunktion der Kokontraktion ist es dem Menschen die Feinmotorik zu ermöglichen. Mit einem Stift, der wenige Gramm wiegt ist diese möglich, während mit einer Kurzhantel die 20 kg wiegt diese eben nicht mehr möglich ist.

    Das Missverständnis besteht damit darin, dass beim Planche eine Kokontraktion zwischen Trizeps und Bizeps zur Stabilisierung auf Grund der hohen Kräfte, die wirken nicht möglich ist. 

     

    Fazit

    Im Planche ist der Bizeps in einer nahezu passiven Rolle.

    Das bedeutet es gibt straight arm strength.

    Der Bizeps spielt hier jedoch keine relevante Rolle.

    Der Trizeps ist der entscheidende Muskel, der den gestreckten Arm in einer Übung wie dem Planche stabilisiert, während der Bizeps aufgrund der Inhibierung durch den Trizeps und der ungünstigen Position keine relevante Kraft entfalten kann.

     

    „Ask the Coach“ ist die Kolumne in der Wolfgang Unsöld Eure Fragen zu Training & Ernährung beantwortet. Das gleichnamige Buch ist im Riva Verlag erschienen und direkt hier erhältlich. 

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